Richard Pithouse
Das Aufbegehren der Slums: Eine Wortmeldung aus Südafrika1
Als einen »Wundbrand, der sich in das Innere der kolonialen Herrschaft frisst«,
beschrieb Frantz Fanon die Menschen in den Armensiedlungen Afrikas, die
»die verschiedenen Städte in der Hoffnung, eines Tages hineinzugelangen«,
unermüdlich umkreisen (1960/1981, 110). Für ihn bildete »diese Horde von
Ausgehungerten, die aus der Stammes- und Klangemeinschaft herausgerissen
sind, […] eine der spontansten und radikalsten unter den revolutionären Kräften
eines kolonisierten Volkes« (ebd.). Die Kolonialherren schienen derselben
Ansicht gewesen zu sein, weswegen sie diese Siedlungen meist im Namen der
öffentlichen Gesundheit und Sicherheit niederreißen ließen.
Noch heute bestimmt sich die Position einer Stadt in der globalen Rangordnung
wesentlich über die Effizienz, mit der es den Herrschenden gelingt, die Arbeiter/
innen räumlich zu separieren, die Ausbreitung von Ghettos einzudämmen, die von
Graswurzelbewegungen erkämpften Freiräume und Siedlungen zu zerstören und
das unkontrollierte Eindringen von illegalisierten Einwander/innen zu unterbinden.
Von Lagos über Delphi bis nach Johannesburg, überall stehen Enteignungen und
Räumungen von Slumsiedlungen auf der Tagesordnung. Und überall, von Portau-
Prince über La Paz bis nach Durban, wehren sich die Menschen gegen diesen
Angriff. Die Hoffnung oder die Angst, dass die Städte nicht nur als Zentralen
ordnungsgemäßer Machtausübung fungieren, sondern auch als Nährboden für sozialen
Unmut und Widerstand, ist alles andere als neu. Dem Vagabunden sowie dem
Haus- und Landbesetzer kommt hierbei seit Langem eine besondere Bedeutung zu.
In den letzten Jahren jedoch sind die Slums zu einem planetarischen (wenn auch
noch nicht universellen) Phänomen geworden, mit dem sich sowohl Philosophen
und NGOs als auch Militärplaner und Politiker befassen. Dabei geht der Ruf nach
einer von oben durchgesetzten Ordnung von allen politischen Lagern aus. Ein Großteil
der gegenwärtigen Aufmerksamkeit, die Slums als »entscheidende geopolitische
Orte« (Davis 2007) erfahren, geht auf die Reaktivierung uralter Vorurteile gegenüber
den städtischen Armen zurück. Dabei werden – wie bereits 1972 Alejandro Portes
warnte – »soziologische oftmals mit psychologischen Realitäten verwechselt« (zit.n.
Wacquant 2008, 89). Und noch heute trifft zu, was Janice Perlman vor mehr als 30
Jahren in ihrer Studie über Armut in Rio de Janeiro festgestellt hat: Auch die Linke
kann sich dem Mythos der Marginalität nicht entziehen (1976, 250).
1
Dieser Text ist die Synthese und Aktualisierung zweier auf Englisch veröffentlichter Beiträge:
»Thinking Resistance in the Shanty Town« (Mute Magazine, 25.8.2006) und »The
May Pogroms: Xenophobia, Evictions, Liberalism, and Democratic Grassroots Militancy in
South Africa« (Sanhati, 16.6.2008).
DAS ARGUMENT 289/2010 ©
Das Aufbegehren der Slums: Eine Wortmeldung aus Südafrika
Der Blick der Metropolen-Linken
»Momentan zumindest hat Marx [in den Slums] die historische Bühne verlassen
und diese an Mohammed und den Heiligen Geist abgetreten.« (Davis 2004, 30)
Die Linke glänze dort weitgehend mit Abwesenheit, doch diese Feststellung war
oberflächlich. Zum einen ist zu hinterfragen, ob man die Definition, was links ist,
westlichen Theoretikern überlassen will. Als Davis sein Urteil fällte, tobten in vielen
Armensiedungen dieser Welt militante Kämpfe oder hatten dort ihren Ausgangspunkt.
Zum anderen ist Davis’ manichäische Gegenüberstellung von religiösen
und politischen Bewegungen unsinnig. Manche der an den Auseinandersetzungen
Beteiligten sind religiös, andere nicht. Viele der Bewegungen sind an sich nicht religiös
motiviert, sondern ihre Organisationsansätze wurzeln in sozialen Beziehungen
und Techniken, die Teil populärer religiöser Praktiken sind. Schließlich resultiert
Davis’ ausgeprägter Pessimismus hinsichtlich der politischen Organisierung in den
Slums aus seinem problematischen methodischen Zugang. Anstatt direkt mit den
Menschen zu reden, die diese Widerstandsbewegungen tragen oder ihre Texte und
Stellungnahmen zur Kenntnis zu nehmen, verlässt er sich auf Quellen der Vereinten
Nationen, der Weltbank, von Spendenorganisationen oder Anthropolog/innen, die
Teil des imperialen Systems sind.
Zur gleichen Zeit, als Davis seinen Text zu den Slums veröffentlichte, schrieb
Slavoj Žižek einen Beitrag, in dem er das explosive Wachstum der städtischen
Armutssiedlungen zu »dem vielleicht wichtigsten geopolitischen Ereignis unserer
Zeit« erklärte. Wir seien konfrontiert mit
der rapiden Zunahme einer Bevölkerung, die sich außerhalb des Rechts befindet
und dringend minimaler Formen der Selbstorganisation bedarf […] Man
sollte sich jedoch vor der Versuchung hüten, die Slumbewohner zum neuen
revolutionären Subjekt zu erheben und zu idealisieren. Und trotzdem ist es
auffällig, wie sehr sie der alten Marxschen Definition des proletarischen revolutionären
Subjekts entsprechen: Sie sind im doppelten Sinne ›frei‹, ›freier‹
sogar als das klassische Proletariat (›frei‹ von allen grundlegenden Bindungen;
›frei‹, weil sie in Räumen außerhalb staatlicher Regulierung leben);
sie bilden eine große Gemeinschaft von Menschen, die aus einer Zwangslage
heraus einen neuen Modus des Zusammenlebens (er)finden müssen, weil sie
ihrer traditionellen Lebensweisen beraubt worden sind […] Die neuen Formen
des sozialen Bewusstseins, die in diesen Slum-Gemeinschaften entstehen,
sind der Keim der Zukunft. (2004, 13)
Žižeks spekulativer und gleichzeitig zaghafter Optimismus stützt sich auf keinerlei
empirische Untersuchungen. Man muss ihm allerdings zugestehen, dass er zumindest
prinzipiell das Denken und Handeln der Menschen in den Slums ernst nimmt. Davis’
Perspektive ist dagegen von hobbes’schen Vorstellungen geprägt. Das materielle
Grauen in den städtischen Armenvierteln des globalen Südens, das er mit Verweis
auf zahlreiche Studien schildert, ist allgemeiner Bestandteil der Existenz von Slum-
bewohner/innen. Doch ist dies nur ein Teil der Wahrheit und ihrer Lebensrealität.
Diese informellen Siedlungen sind für viele Menschen eine wertvolle Ressource, die
ihnen den Zugang zur Stadt und zu ihrer Infrastruktur, zu Arbeit, Ausbildung, Kultur,
Sport und religiösem Leben ermöglicht. Sie können Orte eines Kosmopolitismus von
unten und kultureller Innovation sein. Und das Leben ist dort, wie anderswo auch,
hauptsächlich von Alltagsgewohnheiten geprägt: Die Menschen trinken zusammen
Tee, kochen Abendessen, spielen Fußball, feiern Kindergeburtstage, Schüler/innen
erledigen ihre Hausaufgaben oder gehen zur Chorprobe. Diese Normalität und
eine gewisse Hoffnungsfreude, die man in den Siedlungen erleben kann, stehen in
einem scharfen Kontrast zu apokalyptischen Berichten über die tragische Existenz
im Slum. Eine grundlegende Ambivalenz kennzeichnet das Leben in diesen Siedlungen:
Einerseits bedeutet die Abwesenheit des Staates Mangel an Infrastruktur und
Versorgung (Wasser, Strom, Kanalisation, Müllentsorgung etc.), andererseits kann
sie politische und kulturelle Autonomie ermöglichen.
Robert Neuwirth beschreibt diese Ambivalenz und zeigt, dass das Leben im
Slum auch eine gewisse Attraktivität haben kann. Er zitiert Armstrong O’Brian,
einen Bewohner von Southland in Nairobi: »Dieser Ort macht abhängig. Es ist ein
einfaches Leben hier, aber es gibt niemanden, der Dich einengt und kontrolliert.
Wenn man einmal hier gelebt hat, will man immer wieder zurück« (2005, 96).
Vielleicht sind es diese Erzählungen vom Hauch der Freiheit, von denen Žižeks
Optimismus inspiriert ist.
Fanon bestand noch darauf, der Slum zeuge von der »physischen Entschlossenheit
des Kolonisierten, die feindliche Festung, koste es, was es wolle, […]
zu erobern« (1981, 111). Ein Großteil der gegenwärtigen Literatur hingegen
präsentiert die Slumbewohner/innen als tragische Opfer der Geschichte. Auch
Davis übersieht die radikale Militanz, mit der die Siedlungen häufi g gegründet
und verteidigt werden. Typisch hierfür ist seine Beschreibung von Soweto, »das
sich von einem Vorort zu einer Satellitenstadt entwickelt hat« (2006, 44). Dabei
geht Davis mit keinem Wort auf die Geschichte der Slum-Bewegung Sofasonke
ein, unter deren Führung 1944 mehr als 10 000 Menschen das Land besetzten,
auf dem später Soweto entstehen sollte. Neuwirth hingegen macht deutlich, dass
die meisten Siedlungen das Ergebnis von Landaneignungen durch Graswurzelbewegungen
sind, und er stellt dar, wie ihre Bewohner/innen die Siedlungen aktiv
verteidigen und ausbauen, wozu häufig der Kampf um die Bereitstellung staatlicher
Versorgungsleistungen gehört.
Die städtischen Landbesetzer/innen fordern keine abstrakten Rechte ein, sondern
nehmen sich konkrete Räume. Neuwirth geht nicht naiv davon aus, dass Aneignungen
»von unten« automatisch in demokratische Gemeinschaften münden. Wenn
verschiedene Gründe die Menschen in die Städte drängen, und wenn der Kosmopolitismus
so vieler Slums sie unwiederbringlich von traditionellen Formen der
individuellen und kollektiven Lebensführung entfernt, dann gibt es keine Garantie
dafür, dass die neu entstehenden sozialen Beziehungen und Ordnungen einen
progressiven Charakter annehmen. So ist die indische Shiv Sena – eine hindu-nationalistische
Bewegung, die zuerst in den Slums von Mumbai groß geworden ist – nur
ein Beispiel für eine zutiefst reaktionäre Antwort auf die Anforderung, neue Formen
des Zusammenlebens entwickeln zu müssen. Menschen treffen Entscheidungen, sie
führen spezifische Kämpfe, und dementsprechend fallen die Ergebnisse auch unterschiedlich
aus, so Neuwirths nüchterne Schlussfolgerung. So werden zahlreiche
Armenviertel von »Slumlords« verschiedenster Provenienz beherrscht. Aber dies
ist keine Zwangsläufigkeit und rechtfertigt nicht Davis’ Pessimismus. Formen von
Gemeineigentum und lokale Demokratie sind ebenso möglich, und es gibt hierfür
eine Reihe positiver Beispiele.
Kämpfe in Südafrika
In Südafrika sind die städtischen Armensiedlungen beides: Stätten progressiver und
reaktionärer Strömungen. Eine strukturelle Arbeitsmarktkrise, die gut 40 Prozent
der Bevölkerung permanent von regulärer Beschäftigung ausschließt, sowie rasant
angestiegene Lebensmittelpreise und Transportkosten haben die prekäre Lage der
Armen seit den 1990er Jahren weiter verschärft. Und obwohl die Menschen unter
diesen Umständen neue Formen der Solidarität und des kollektiven Miteinanders
entwickeln, um ihr Überleben zu sichern, hat die Verzweiflung inzwischen ein
gefährliches Ausmaß angenommen. Die Aussicht, niemals eine zum Leben ausreichende
Arbeit zu finden, ist kaum mit Gleichmut zu ertragen.
Grundrechte haben auch mit dem Zugang zu Raum zu tun. Das offizielle Ziel, in
die Klasse der »World Cities« aufzusteigen, rechtfertigt vielerorts die Vertreibung der
Armen aus den Innenstadtvierteln und macht die seit den 1980er Jahren betriebene
Desegregation der Städte wieder rückgängig. Ein staatliches Programm sieht den fast
vollständigen Abriss zentral gelegener Hüttensiedlungen bis 2014 vor. Die Projekte
zur Modernisierung von städtischen Slums sind Ausnahmen. Indem die Armen aus
ihren Vierteln vertrieben werden, wollen sich die Regierenden eines selbstbewussten
urbanen Proletariats entledigen, das oftmals über eine gewisse Autonomie und einen
starken Gemeinschafts- und Kampfsinn verfügt. Arbeiter/innen werden zu individualisierten
Konsumenten und »Hausbesitzern« an der urbanen Peripherie gemacht.
Die Rückkehr zu gewalttätigen Vertreibungen stellt einen direkten Angriff auf die
Existenz dieser Menschen dar, auf ihr Recht, ihre Stimme zu erheben und gehört zu
werden, ihre eigene Zukunft mitzubestimmen, auf ihren Wunsch nach städtischem
Leben und auf ihre Identität als Bürger/innen.2 Trotz eines inzwischen mehrjährigen
erbitterten Kampfes der Slumbewohner gegen Stadträte, lokale Parteivertreter und
Bezirksausschüsse wird das Thema Vertreibung von den politischen Eliten weiterhin
ignoriert. Auch der Zivilgesellschaft fällt es schwer zu begreifen, dass es beim
demokratischen Aufbau nicht nur um Wahlen und gut funktionierende NGOs geht.
Viele Menschen, die sich in den Kämpfen der 1980er Jahre um die Menschenrechte
verdient gemacht haben und denen Mandelas Vision einer neuen Nation eine gleichberechtigte
soziale und gesellschaftliche Teilhabe versprochen hat, müssen nun
erkennen, dass ihnen weiterhin – unabhängig davon, was ihre Ausweisdokumente
sagen – grundlegende Bürgerrechte vorenthalten werden. Sie werden wie »Fremde
in ihrem eigenen Land« behandelt.
Die gegenwärtigen Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse sind meist
technokratisch organisiert und von Experten bestimmt. Und die einstige Partei der
Hoffnung, der ANC, begegnet den Ärmsten der Armen heute vor allem als verlängerter
Arm des Staates, als Instrument der sozialen Kontrolle und weniger als ein
Forum, das demokratische Diskussionen ermöglicht. In vielen der tausendfachen
Graswurzel-Proteste der letzten Jahre, die von linken NGOs wie vom Staat häufig
absichtlich falsch als »Konflikte um Infrastruktur und Dienstleistungen« bezeichnet
worden sind, ging es um die Forderung, dass die lokalen Parteistrukturen und
-vertreter sich dem Willen der Bewohnerschaft zu beugen haben. Die Krise der
politischen Repräsentation, hervorgerufen durch eine weitreichende Entrechtung
großer Bevölkerungsteile, hat ihren Ausdruck in beeindruckenden Mobilisierungen
gefunden, die Menschen unterschiedlicher Herkunft – Staatsbürger/innen und Illegalisierte
– zusammengeführt haben, mit dem Ziel, gemeinsam die Gesellschaft von
unten zu demokratisieren. Wo aber demokratische Ansätze fehlen, kann es leicht zu
reaktionären Entwicklungen kommen. Eine Möglichkeit, sich der eigenen Zugehörigkeit
zu vergewissern, ist, sich gegen die »wirklichen Fremden« zu wenden.
Die Pogrome vom Mai 2008
Im Mai 2008 wurden zwei Wochen lang Menschen, die den »Eingeborenen-Test«
des Mobs nicht bestanden hatten, bedroht, geschlagen, vergewaltigt, bei lebendigem
Leibe zerstückelt und verbrannt und überall in Südafrika aus den Hüttensiedlungen
und Stadtzentren vertrieben. Ihren Beginn nahmen die Angriffe in den Slums rund
um Johannesburg, in denen die Häuser von Einwander/innen und von Angehörigen
von ethnischen Minderheiten angezündet wurden. In der zweiten Woche breiteten
sich die Pogrome dann auf das Stadtzentrum aus, wo es zu gewalttätigen Zusammenstößen
rund um die »Central Methodist Church« kam, einem Zufl uchtsort für
illegalisierte Einwander/innen aus Simbabwe. Glücklicherweise gelang es ihnen,
sich im Inneren der Kirche zu verbarrikadieren. Wenige Monate zuvor hatte es
schon einmal einen Angriff auf das Kirchenasyl gegeben, damals von der Polizei.
Die Beamten hatten das Gebäude unter Einsatz von Hunden, Pfefferspray und
Schlagstöcken gestürmt und 500 Menschen festgenommen. Kirchenvertreter/innen
berichteten den Medien, dass die Bewohner/innen geschlagen und beraubt worden
waren. Selbst Menschen mit gültigem Aufenthaltsstatus hatte die Polizei verhaftet.
Die Ausschreitungen dehnten sich auf Durban, Kapstadt und die kleineren Städte im
Hinterland aus. In Durban war das erste Ziel eine von Nigerianer/innen betriebene
Bar. Es folgten Übergriffe auf Menschen aus Ruanda und Kongo in den innerstädtischen
Wohnvierteln, danach traf es Migrant/innen aus Mozambique, Simbabwe
und Malawi in den Slums. In Kapstadt waren die ersten Angriffsziele somalische
Ladenbetreiber/innen, die seit Jahren häufi g Opfer von Mord und Totschlag sind.
Ein Teil des Mobs sang bei der Hatz auf Ausländer das Wahlkampflied Jacob Zumas
»Bring My Machine Gun«. Einige der Angreifer kamen aus den Hüttensiedlungen
und den Hostels für Wanderarbeiter/innen, die in enger Verbindung mit der nationalistischen
Zulu-Bewegung Inkatha stehen. Einige waren einfach nur betrunkene
junge Männer. Die Taktik, mit einem Sprachtest herauszufinden, ob es sich bei den
Verfolgten um Südafrikaner/innen oder Flüchtlinge aus den Nachbarländern handelt,
stammt von der Polizei. Hierbei werden die Menschen zum Beispiel gezwungen,
den leicht archaischen Zulu-Ausdruck für Ellbogen zu nennen. Die Opfer des fremdenfeindlichen
Mobs waren hauptsächlich im Ausland geborene Schwarzafrikaner/
innen, mancherorts wurden auch Pakistani oder südafrikanische Minderheiten,
insbesondere Angehörige der Volksgruppen Tswana, Tsonga und Venda, attackiert.
Vereinzelt war die Polizei beteiligt, anderswo gelang es Community-Organisationen,
mit den Sicherheitskräften zu kooperieren und die gewalttätigen Ausschreitungen
unter Kontrolle zu bringen. In der Armensiedlung Protea South in Johannesburg kam
es zur erfolgreichen Selbstorganisierung der ausländischen Bewohner/innen, die zu
ihrem Selbstschutz rund um die Uhr Patrouillen einsetzten.
Nach zwei Wochen gab es 62 Tote, ein Drittel von ihnen südafrikanische Staatsbürger/
innen. Die Zahl der Vertriebenen wurde auf 80 000 bis 100 000 geschätzt.
Ein Teil war über die Landesgrenzen geflohen, andere hatten in Kirchen, Polizeistationen
und Flüchtlingslagern Zuflucht gefunden. Es folgten Untersuchungen von
Menschenrechtsorganisationen, welche die Pogrome verurteilten und Vorwürfe an
die südafrikanische Regierung richteten.
Die extreme Feindseligkeit, mit der der Post-Apartheid-Staat von Anfang an auf
afrikanische Einwanderer/innen reagiert hat, ist von wissenschaftlichen Studien
und Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert (vgl. u.a. Neocosmos
2006). Die Zuwanderer und Flüchtlinge treffen in Südafrika auf ein unnachsichtiges
politisches Regime. Eine korrupte Bürokratie und Polizei nutzen häufig die Furcht
der Migrant/innen vor Verhaftungen und Deportationen aus, um Geld zu erpressen.
Wiederholt wurden selbst südafrikanische Staatsbürger/innen festgenommen und in
Länder abgeschoben, die sie überhaupt nicht kannten, nur weil sie bei den regelmäßig
stattfindenden Kontrollen nicht ausreichend Zulu sprechen konnten, nicht
die richtigen Impfmarkierungen vorzuweisen hatten oder einfach nur »zu schwarz«
waren. Selbst wenn jemand eine Aufenthaltserlaubnis hat, diese jedoch gerade nicht
vorzeigen kann, droht ihm die Deportation, da es in Südafrika den Ausländer/innen
obliegt, jederzeit nachzuweisen, dass sie sich rechtmäßig im Land aufhalten. Diese
Zustände erinnern nicht nur Migrant/innen an das berüchtigte Passsystem des Apartheidregimes,
mit dem der Staat die Bewegungsfreiheit der Schwarzen einschränkte.
Aber das Problem sind nicht nur korrupte Parteistrukturen und der Staat. In
Radio-Talk-Shows, beim Theaterbesuch, bei der Zeitungslektüre und selbst bei
Universitätsvorlesungen zeigt sich, dass die Vorurteile und Ängste, die Weiße
während der Apartheid auf schwarze Menschen projizierten, heute häufig auf die
Armen im Allgemeinen und auf die Slumbewohner/innen und Einwander/innen im
Besonderen übertragen werden. Dinge, die man heute nicht mehr in aller Öffentlich-
keit über die Schwarzen sagen kann, werden nun den in- und ausländischen Armen
zugeschrieben. Auch Angehörige der schwarzen Mittelschicht beteiligen sich an
dieser Hatz. Die von der alten Herrschaft geschürten Ängste und Aggressionen
wurden nicht überwunden, sie haben unter der gegenwärtigen Ordnung nur neue
Projektionsziele gefunden.
Abahlali baseMjondolo
Die sozialen Bewegungen in den Armenvierteln, die zentraler Teil einer neuen
demokratischen Graswurzel-Militanz sind, haben sich dagegen während der
Pogrome im Mai 2008 zum Teil erfolgreich gegen den aufgebrachten Mob gestellt.
In den mehr als 30 Siedlungen in der Region von Durban und Pietermartizburg, in
denen die Slum-Bewegung Abahlali baseMjondolo3 stark ist, kam es zu keinem
einzigen Übergriff. Auch die Landlosen-Bewegung in Johannesburg und die Anti-
Eviction-Campaign in Kapstadt, haben deutlich Position auf Seiten der Migrant/
innen bezogen.
Die Gründung von Abahlali baseMjondolo (AbM) in Durban geht zurück auf eine
Straßenblockade im »Kennedy Road Settlement« im März 2005. Kennedy Road
liegt in der Nähe des Stadtzentrums und war von Räumung bedroht. In den Monaten
nach der Blockade kam es zu intensiven Diskussionen mit den Bewohner/innen
von weiteren zwölf Armensiedlungen an der innerstädtischen Peripherie, die sich
schließlich zu einer »Bewegung der Armen für die Armen« zusammenschlossen.
Am Gründungsprozess von AbM war keine NGO oder politische Organisation
beteiligt, es gab keine Unterstützung durch auswärtige Spender. AbM greift auf
traditionelle Vorstellungen von der Würde jedes Menschen zurück und hat diese den
kosmopolitischen Verhältnissen in den Städten angepasst. Von Beginn an zeichnete
sich die Bewegung durch einen besonders fürsorglichen Umgang der Mitglieder
untereinander aus sowie durch eine zutiefst demokratische politische Kultur, wie sie
in vielen Kirchengemeinden üblich ist. Es handelte sich im Sinne des brasilianischen
Stadt- und Bewegungsforschers Marcelo Lopes de Souza (2000) um ein wahrhaft
autonomes politisches Projekt.
In den ersten Jahren reagierten die staatlichen Stellen auf diese Organisierung
von unten vor allem mit offener Repression. Sie weigerten sich, AbM als legitime
Interessenvertretung der Siedlungsbewohner/innen anzuerkennen. Die Polizei
behandelte die Hüttensiedlungen, die sich der Bewegung angeschlossen hatten,
als »regimekritische Territorien«. Als die Spannungen zunahmen, wurden einige
von ihnen zeitweise vom Militär besetzt. Im September 2007 griff die Polizei eine
genehmigte und friedliche Demonstration von AbM zum Büro des Bürgermeisters
von Durban brutal an. Weitere Protestaktionen von AbM wurden verboten, bekannte
Mitglieder verloren ihre Arbeit. Zwischen Oktober 2005 und September 2007 gab
Vertreter/innen von AbM mit Gewalt daran gehindert, Einladungen zu Radio- und
Fernsehauftritten oder zu Gesprächen mit Politikern wahrzunehmen. Während
dieser Phase der unmittelbaren Repression warfen staatliche Stellen der Bewegung
vor, sie sei Teil einer politischen Verschwörung zur Destabilisierung des Landes.
Trotz aller Schwierigkeiten konnte die Bewegung in den ersten beiden Jahren ihrer
Existenz viel erreichen. Sie gründete die University of Abahlali baseMjondolo, einer
Art Volksuniversität mit basisdemokratischen Strukturen. Nach ausführlichen Diskussionen
beschloss AbM, sich nicht auf Parteipolitik einzulassen und nur mit solchen
NGOs zusammenzuarbeiten, die bereit waren, die Unabhängigkeit der Bewegung
anzuerkennen. Zudem baute sie ihre Verbindungen zu den Kirchen aus. »Redet mit uns,
nicht für uns« avancierte zum zentralen Motto von AbM. Während dieser Zeit, in der
die Bewegung immer größer wurde, gelang es ihr, einen bemerkenswerten Einfl uss auf
die öffentliche Meinung zu nehmen. Die Bewohner/innen der Armensiedlungen, die
nach dem Ende der Apartheid keine politische Rolle gespielt hatten, betraten nun die
Bühne der nationalen Politik als selbstbewusste Akteure, die jenseits der Kontrolle von
Parteien und NGOs für ihre eigenen Interessen eintraten. Auch in praktischer Hinsicht
war AbM erfolgreich. In den Siedlungen, in denen die Bewegung stark präsent war,
konnten Räumungen verhindert werden. Vielerorts konnten die Siedlungen sogar
ausgebaut und der Zugang zu öffentlicher Infrastruktur erkämpft werden. Es entstanden
Kinderkrippen und andere soziale Einrichtungen. Tausende Bewohner/innen wurden
zum Teil illegal an das Stromnetz angeschlossen oder erhielten Zugang zu Wasser. Man
wehrte sich gegen die ständige Polizeirepression, und dort, wo es gelang, demokratische
Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen, konnte sogar die Macht der lokalen
Parteieliten gebrochen werden, die sonst jeglichen politischen Dissens mit dem Entzug
von Sozialleistungen bestrafen. So entstand eine breite Graswurzelbewegung für das
Recht auf urbanen Wohnraum und Land, die weit über Durban hinaus bekannt wurde.
AbM organisierte große Versammlungen und Kampagnen, an denen sich auch
NGOs, Akademiker/innen und Rechtsanwält/innen beteiligten, auf der Grundlage
gegenseitigen Respekts und auf dem Terrain, auf dem die Bewegung stark ist. Dies
stand im Gegensatz zu vorangegangenen Formen der Zusammenarbeit, bei denen
sich NGOs regelmäßig anmaßten, die Führungsrolle einzunehmen und von außen
über die Zielsetzung der Kämpfe zu bestimmen. Die erste Kampagne dieser neuen Art
richtete sich gegen den »Slum Act«, der zuerst 2007 in der Provinz KwaZulu-Natal
verabschiedet worden war und als Vorbild für ähnliche Gesetze in anderen Landesregionen
dienen sollte. Der »Slum Act« sieht im Kern eine Kriminalisierung aller
Landbesetzungen, des Widerstands gegen Räumungen und der Selbstorganisierung
von Slumbewohner/innen vor. Nach langjährigen Kämpfen hat AbM im Oktober
2009 einen richtungsweisenden Sieg errungen: Der Verfassungsrat entschied, dass
der »Slum Act« verfassungswidrig ist und gegen geltendes Recht verstößt, das den
Staat u.a. dazu verpflichtet, adäquaten Wohnraum bereitzustellen. Zudem wurde
AbM als die legitime Interessenvertretung von 14 Siedlungen in Durban anerkannt,
was erstmals Verhandlungen mit der Stadtverwaltung ermöglichte. Einige der
Hüttensiedlungen konnten so legal ausgebaut und modernisiert werden.
Inzwischen ist die Situation jedoch erneut eskaliert. Im Jahr 2010 kam es allein in
der Siedlung Kennedy Road zu fünf Bränden. Am 3. Juli 2010 starben drei Menschen,
500 Hütten brannten ab und hinterließen 3 000 Obdachlose. AbM machte die Stadtverwaltung
für diese Katastrophe verantwortlich, weil sie ihre Versprechungen gebrochen
hatte, die Siedlung an das Stromnetz anzuschließen. Unterdessen beschäftigt ein
weiterer Vorfall die Gerichte. Im September 2009 hatten mutmaßliche Anhänger des
ANC mit Gewehren und Messern bewaffnet die Siedlung überfallen und das Hauptquartier
von AbM zerstört. Dabei waren vier Menschen unter den Augen der Polizei getötet
sowie zwölf Personen aus der Bewegung und ihrem Umfeld verhaftet und des Mordes
beschuldigt worden. Der gewählte Vorsitzende von AbM, S’bu Zikode, lebt seitdem
im Untergrund. Im Juli 2010 begann der Gerichtsprozess, wurde jedoch aufgrund
der Abwesenheit der Angeklagten und wichtiger Zeugen auf Ende November vertagt
(Pressemitteilung von AbM, 12.7.2010). Dieser gezielte Angriff steht stellvertretend für
den Versuch, alle autonomen Graswurzelbewegungen der Slumbewohner/innen einzuschüchtern
und zu kriminalisieren. Dass der ANC ein Interesse daran hat, hängt nicht
zuletzt mit der Strategie von AbM und anderen Bewohnervertretungen zusammen, die
lokalen Wahlen zu boykottieren, nach dem Motto »no house, no land, no vote«.
Die Erfahrungen von AbM zeigen, dass der Wille, sich zu wehren, nicht notwendig
mit dem Ausmaß materieller Entbehrung oder staatlicher Repressionen und Drohungen
zusammenhängt. Vielmehr basieren solche Kämpfe immer auch auf kulturellen und
intellektuellen Leistungen. Dementsprechend sind Orte und Praxen von grundlegender
Bedeutung, in denen der benötigte Mut und die Ausdauer gefördert werden.
Um aus den unterschiedlichen Menschen und Lebenserfahrungen eine Gemeinschaft
und eine kämpferische Bewegung zu formen, bedarf es eines hybriden Neuen, das aus
den Fäden des Alten zusammengewoben werden muss. Formale Treffen und Strukturen
sind wichtig für die Reflexion der gemachten Erfahrungen und die Entwicklung
neuer Ideen. Zudem kommt es darauf an, eine gewisse Unabhängigkeit von staatlichen
Instanzen, Parteistrukturen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu
schaffen. Eine Bewegung muss zuvorderst den Menschen gegenüber Rechenschaft
ablegen und verantwortlich sein, in deren Namen sie sich gegründet hat und spricht.
Darüber hinaus sind gemeinsame Essen und Gottesdienste, das Zusammenkommen,
um sich Geschichten zu erzählen, Musik zu hören oder um Angehörige zu Grabe zu
tragen, enorm wichtig, um Bindungen und den Willen zum kollektiven Kampf zu
stärken. Die Vorstellung, Politik im Slum sei immer dann progressiv, wenn Bündnisse
mit bürgerlichen Kreisen geschlossen werden, übersieht die vielfältigen Herrschaftsbeziehungen
auf der Mikroebene. Auch das bloße Verlangen nach einem besseren
Leben reicht für eine emanzipatorische Bewegung nicht aus. Eine wirklich radikale
Politik entsteht nur dann, wenn sich Menschen einer Gemeinschaft verpfl ichten, die
sich über politische und materielle Gemeingüter (commons) definiert. Das zentrale
politische Prinzip muss sein, dass es auf jedes Mitglied ankommt.
Der demokratische Kampf ist eine Schulung, in der es darum geht, Einfl uss und
Spielräume auszuweiten und Gelegenheiten zum Austausch für möglichst viele
Menschen zu schaffen. Dies entscheidet über den Erfolg einer Bewegung und nicht,
ob es einigen Vertreter/innen gelingt, sich den Jargon der Mittelschicht-Linken
anzueignen, indem sie an NGO-Workshops auf der anderen Seite des Stacheldrahts
teilnehmen. Am Ende dient dieser Jargon nicht dazu, die Menschen zu befähigen
und die Bewegungen zu stärken, denn gegenüber den lokalen Herrschafts- und
Machtverhältnissen ist er blind. Die politische Analyse zahlreicher NGOs und linker
Organisationen leidet häufig darunter, dass sie zwar in der Lage sind, nationale und
internationale Konflikte zu reflektieren, diese aber nicht mit lokalen Auseinandersetzungen
in Verbindung setzen können.
Die Erfahrung von AbM ist, dass für die meisten Slumbewohner/innen der Kampf
mit konkreten Erfahrungen und Forderungen beginnt. Es geht um Toiletten, um den
Bau einer Schule oder eines Kindergartens, um ein bestimmtes Stück Land, um
Räumungen, um absichtlich gelegte Feuer, um Wasserleitungen, um einen besonders
skrupellosen Slum-Lord, Politiker oder Polizeichef, um das gebrochene Versprechen
eines Investors oder ein konkretes Verbrechen wie den Mord an einem Angehörigen.
Da der Kampf auf der lokalen Ebene beginnt, stehen auch das unmittelbar Materielle
und seine Gewalt im Vordergrund – Körper, Lieder und Steine gegen kreisende
Hubschrauber, Tränengas und Polizeimunition. Die Auseinandersetzung ist real von
Anfang an. Und wenn die Bewegung im Laufe des Kampfes demokratisch und offen
bleibt gegenüber den Bedürfnissen und Forderungen der Basis, dann bleibt sie real.
S’Bu Zikode hat es einmal so formuliert: Was wir brauchen, ist eine »Politik der
Armen, eine selbst erfundene Politik, die jeder verstehen kann und in der sich jeder
wiederfindet«.
Aus dem Englischen von Britta Grell
Literatur
Fanon, Frantz, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt/M 1981
Davis, Mike, »Planet of Slums«, in: New Left Review 26, 2004, 5-34, www.newleftreview.org
ders., »Turning a Planet into a Slum«, Interview mit Mike Davis, www.tomdispatch.com,
9.5.2006
ders., Planet der Slums, Berlin-Hamburg 2007
Lopes de Souza, Marcelo, »Urban Development on the Basis of Autonomy: A Politico
philosophical and Ethical Framework for Urban Planning and Management«, in: Ethics, Place
and Environment, 3. Jg., 2000, H. 2, 187-201
Neocosmos, Michael, From ›Foreign Natives‹ to ›Native Foreigners‹: Explaining Xenophobia
in Post-Apartheid South Africa, Dakar 2006
Neuwirth, Robert, Shadow Cities: A Billion Squatters, a New Urban World, New York 2005
Perlman, Janice, The Myth of Marginality: Urban Poverty and Politics in Rio de Janeiro,
Berkeley 1976
Wacquant, Loïc, Urban Outcasts, London 2008
Žižek, Slavoj, »Knee Deep«, in: London Review of Books, 26. Jg., 2004, H. 17, 12f, www.lrb.
co.uk
ders., In Defense of Lost Causes, London 2008
2 Es darf nicht vergessen werden, dass die Verweigerung des »Rechts auf Stadt« zentraler
Bestandteil der rassistischen Politik des Apartheidregimes war, mit der schwarze Afrikaner/
innen ihres staatsbürgerschaftlichen Status beraubt wurden.
3 Der Ausdruck Abahlali baseMjondolo bedeutet in Zulu »Menschen, die in Slums wohnen«.